Ein gutes Pferd springt nur so hoch wie es muss

Dieses Sprichwort lässt sich trefflich auf vielerlei Bereiche in unserer modernen Welt übertragen – nicht zuletzt auf die Entwicklung innovativer Systeme. Hierbei fungieren die gestellten Anforderungen symbolisch als die zu überwindenden Hürden, die es zu bewältigen gilt, um ein erfolgreiches System hervorzubringen.

Folgen wir dieser Analogie, ist also vor allem die richtige Höhe der Hindernisse ausschlaggebend. Das Setzen von zu niedrigen Hürden birgt die potenzielle Gefahr, dass das finale System unterentwickelt und somit nicht imstande ist, die Bedarfe der Nutzer zufriedenstellend zu erfüllen. Zu hoch gesetzte Planken dagegen, können unnötige Komplexitäten und Kosten nach sich ziehen, welche zu einer Verlangsamung oder im schlimmsten Fall zum Scheitern des Projekts führen.
Ein hochwertiges Anforderungsmanagement sollte somit unter anderem in der Lage sein, die optimale Höhe der Hürden zu definieren, die es zu meistern gilt. Hierbei stehen sowohl die Bedürfnisse der Stakeholder als auch die technischen Möglichkeiten im Fokus, um eine reibungslose Entwicklung zu gewährleisten, welche klaren Zielen folgt und auf das Wesentliche konzentriert ist.
Doch was genau bedeutet Anforderungsmanagement im Kontext des Systems Engineerings? Es beschreibt den Prozess der systematischen Erfassung, Analyse, Spezifikation und Verfolgung von Anforderungen während des gesamten Lebenszyklus eines Projekts. Es stellt sicher, dass Kundenbedürfnisse, gesetzliche Vorgaben und weitere Stakeholderanforderungen klar und eindeutig erfasst und in messbare sowie verifizierbare Systemanforderungen übersetzt werden.

Für Ingenieure (m/w/d) und Projektmanager (m/w/d) ist es also durchaus herausfordernd, sich in diese Arbeitsweise einzuarbeiten. Mit den richtigen Strategien können solche Hürden jedoch effizient überwunden werden.

1. Strategie: Ganzheitliche Systemlebenszyklusbetrachtung

Die Anforderungserhebung im Systems Engineering ist ein komplexer Prozess, der weit über die bloße Definition von Funktionalitäten hinausgeht. Eine umfassende Betrachtung aller Lebenszyklusphasen eines Systems – von der Konzeption bis zur Außerbetriebnahme – ist entscheidend, um effektive, nachhaltige und ganzheitlich optimierte Systeme zu entwickeln.

Betrachten Sie als Systems Engineer also immer auch die nicht-funktionalen Anforderungen an das zu entwickelnde System. Dazu zählen mitunter:

  • Produktion: Stellen Sie sicher, dass Ihr entwickeltes Produkt auch herstellbar ist. Unklare oder unrealistische Anforderungen können zu Produktionsfehlern, Qualitätsmängeln und letztlich zu einem Ergebnis führen, das nicht den Erwartungen entspricht.
  • Logistik: Berücksichtigen Sie etwaige logistische Anforderungen. Eine Vernachlässigung dieser Faktoren kann neben ineffizienten Lieferprozessen und erhöhten Kosten auch zu Beschädigungen während des Transports führen. Das wohl prominenteste Beispiel der Gegenwart ist vermutlich die neue Yacht des Amazon Gründers Jeff Bezoz, bei der die Auslieferung – aufgrund einer Brücke in der Nähe der Werft – für Schlagzeilen gesorgt hatte. Hier liegt nahe, dass die logistischen Anforderungen nur oberflächlich behandelt oder zumindest nicht hoch genug priorisiert wurden.
  • Betrieb und Wartung: Soll die operative Wirksamkeit gewahrt werden, ist es wichtig auch die Anforderungen an den Betrieb und die Wartung des Systems zu betrachten. Geschieht dies nicht, muss man mit häufigen Ausfällen, hohen Instandhaltungskosten und letztendlich mit der Unzufriedenheit der Endnutzer rechnen.
  • Außerbetriebnahme: Auch hierbei ist eine frühzeitige Planung für Recycling und Entsorgung unerlässlich, da die Anforderungen an die Außerbetriebnahme Nachhaltigkeit sowie Umweltverträglichkeit des Systems beeinflussen. Eine Nichtberücksichtigung kann daher zu Umweltbelastungen, gesetzlichen Problemen und letztendlich zu einem Imageverlust führen.

2. Strategie: Stakeholderintegration

Ein Verständnis über die eigentlichen Bedürfnisse zu erlangen, die durch die Erfüllung von Anforderungen gestillt werden sollen, stellt das Fundament der Entwicklung eines erfolgreichen Systems dar.
Dies kann durch die Integration der einzelnen Parteien in die Anforderungserhebung erreicht werden.

Entscheidend ist die Anwendung bewährter Prozesse und Methoden:

  • Beginnen Sie frühzeitig mit der Identifizierung aller relevanten Stakeholder, einschließlich interner und externer Gruppen. Dies ermöglicht eine umfassende Stakeholder-Analyse und stellt sicher, dass kein wichtiger Input übersehen wird.
  • Organisieren Sie interaktive Sitzungen wie Workshops und Fokusgruppen, in denen die Stakeholder direkt Bedürfnisse und Erwartungen äußern können. Dies fördert den offenen Austausch und hilft, Missverständnisse frühzeitig zu klären.
  • Nutzen Sie schriftliche Instrumente wie Umfragen und Fragebögen, um Feedback von Stakeholdern zu sammeln, insbesondere wenn persönliche Treffen schwierig sind. Diese sollten so gestaltet sein, dass sie leicht verständlich und ausfüllbar sind.
  • Visualisieren Sie das Endprodukt oder System mithilfe von Prototypen und Mock-Ups, um den Stakeholdern konkrete Anschauungsmaterialien zur Verfügung zu stellen. Dies ermöglicht es ihnen, konkreteres Feedback zu geben und potenzielle Missverständnisse zu vermeiden.
  • Ziehen Sie bei Bedarf externe Experten (m/w/d) hinzu, um sicherzustellen, dass die Anforderungen den Branchenstandards und -best Practices entsprechen. Diese Experten können dazu beitragen, potenzielle Lücken oder Unklarheiten in den Anforderungen zu erkennen und zu schließen.
  • Stellen Sie sicher, dass die Kommunikation mit den Stakeholdern während des gesamten Projekts kontinuierlich erfolgt. Halten Sie sie über den Fortschritt auf dem Laufenden und lassen Sie sie wissen, wie ihre Beiträge in den Anforderungsprozess einfließen. Dies erhöht das Engagement und die Wahrscheinlichkeit, dass Stakeholder proaktiv Feedback geben.
  • Schließlich ist es wichtig, die Stakeholder nicht nur in der Erhebungsphase, sondern auch während der Verifikations- und Validierungsprozesse (V&V) aktiv einzubeziehen. Auf diese Weise können sie überprüfen, ob die entwickelte Lösung ihren Erwartungen entspricht und den eigentlichen Bedarf abdeckt. Dies hilft dabei, Abweichungen frühzeitig zu erkennen und zu beheben. Durch die Anwendung dieser Strategien können Sie sicherstellen, dass sowohl der grundlegende Bedarf als auch die spezifischen Anforderungen der Stakeholder klar erfasst werden, was das Risiko unklarer Anforderungen minimiert und den Erfolg Ihres Systems Engineering-Projekts unterstützt.

Ein in diesem Zusammenhang besonders erwähnenswerter Stakeholder ist der Verifikations- und Validierungsverantwortliche (m/w/d). Durch frühzeitige Abstimmungen mit ihm/ihr, lassen sich die V&V-Aktivitäten frühzeitig planen, zudem wird ein effizienteres Vorgehen sichergestellt. Nicht zuletzt durch das frühzeitige Erkennen, ob die Erfüllung einer Anforderung nachweisbar ist.

3. Strategie: Anforderungsdefinition

Häufig sind bereits Anforderungen unklar formuliert oder weisen Lücken auf. Dies führt zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen, wodurch das Fehlerrisiko im späteren Entwicklungsprozess steigt.

Um solche Probleme zu vermeiden, ist es von zentraler Bedeutung, Anforderungen klar, präzise und vollständig zu formulieren. Qualitativ hochwertige Anforderungen, wie sie von INCOSE empfohlen werden, zeichnen sich durch folgende Merkmale aus. Stellen Sie sicher, dass die Anforderungen

  • notwendig
  • unabhängig von der Umsetzung
  • eindeutig formuliert
  • atomar
  • machbar
  • nachweisbar in ihrer Erfüllung, sowie
  • konsistent mit anderen Anforderungen

sind.

In diesem Kontext können verschiedene Ansätze zur Anforderungsdefinition unterstützend wirken:

  • Die Anwendung von Satzschablonen.
  • Die Verwendung einer klaren und verständlichen Sprache mit Verzicht auf Fachjargon und Abkürzungen.
  • Die systematische Verifikation und Validierung der Anforderungen.
  • Der Einsatz von Anforderungsmanagement-Tools, die speziell für diesen Zweck entwickelt wurden.

4. Strategie: Rückverfolgbarkeit / Traceability

Die angemessene und detaillierte Rückverfolgbarkeit stellt eine weitere herausfordernde Komponente des Anforderungsmanagements dar. Sie umfasst die Fähigkeit, die Verbindungen zwischen

  • verschiedenen Anforderungen,
  • Anforderungen und individuellen Systemelementen und Funktionen, sowie
  • Anforderungen und den Ergebnissen von Verifikations- und Validierungsprozessen

herzustellen.

Die erfolgreiche Bewältigung dieser Herausforderung trägt maßgeblich zur Transparenz und Nachvollziehbarkeit bei, was sich wiederum äußerst positiv auf den gesamten Entwicklungsprozess auswirkt.

Dies hat mehrere, wichtige Konsequenzen:

  • Qualitätsmanagement: Die systematische Anwendung des Traceability-Konzepts ermöglicht eine gründliche Prüfung, ob sämtliche Anforderungen ordnungsgemäß geprüft und erfüllt wurden.
  • Risikomanagement: Abweichungen und Probleme werden frühzeitig erkannt und können zurückverfolgt werden. Dies erleichtert die Identifikation von potenziellen Auswirkungen auf andere Bereiche.

Für eine präzise Verknüpfung von Anforderungen sowie einzelner Systemelemente, stehen spezialisierte Softwaretools zur Verfügung, deren Einsatz empfehlenswert ist. Ebenso können diese Tools dazu verwendet werden, Anforderungen mit den entsprechenden Verifikationskriterien und -methoden zu verbinden. In vielen Fällen kommt die sogenannte RVTM (Requirements and Verification Traceability Matrix) zum Einsatz, um diese Verknüpfungen zu visualisieren und zu verwalten. Des Weiteren bieten moderne Programme Funktionen wie automatische Versionskontrolle und Benachrichtigungen über Änderungen, um die Zusammenarbeit im Team zu erleichtern.

Fazit

Es wird deutlich, dass gerade das Anforderungsmanagement – aus Sicht des Systems Engineerings – zweifellos einen maßgeblichen Einfluss auf den Erfolg eines Projektes hat. Ingenieure und Projektmanager stehen daher vor der großen Herausforderung, Anforderungen effektiv zu erfassen, zu verwalten und zu kommunizieren. Von fehlendem Verständnis der Stakeholder-Bedürfnisse bis zur Notwendigkeit der einheitlichen Formulierung von Anforderungen, können die Hindernisse vielfältig sein.

Wie wir jedoch veranschaulicht haben, können diese Herausforderungen mit den richtigen Strategien und Werkzeugen effizient gemeistert werden. Die ganzheitliche Lebenszyklusbetrachtung des Systems, der frühzeitige Dialog mit den Stakeholdern, die Nutzung von Anforderungsmanagement-Tools, die Etablierung von klaren Standards sowie ein funktionierendes Traceability-Konzept, sind entscheidende Schritte auf dem Weg zum erfolgreichen Anforderungsmanagement.

Für Ingenieure (m/w/d) und Projektmanager (m/w/d), die sich in die Systems Engineering Arbeitsweise einarbeiten, sind diese Fähigkeiten von unschätzbarem Wert. Sie tragen dazu bei, Missverständnisse zu minimieren, die Effizienz zu steigern und letztendlich die Erfolgsaussichten von Projekten zu verbessern. Das Anforderungsmanagement ist mehr als nur eine administrative Aufgabe – es ist der Schlüssel zur Umsetzung von Visionen in realisierbare Lösungen.